Ein Wochenende in Lübeck

Was als Wochenendtrip begann, wurde ein kleiner Gedankenspaziergang – durch Lübeck, Travemünde und meine eigenen Umwege. Ich habe mir Zeit genommen: zum Reisen, zum Nachdenken und zum Schreiben. Der Bericht ist etwas länger geworden. Aber wer Lust hat, mit mir durch Gassen, Gedanken und Geschichten zu schlendern, ist herzlich eingeladen.

Reisebeginn

Meine Reise begann an einem verregneten Freitagmorgen. Gegen acht Uhr machte ich mich auf zum Bahnhof. Die Berge lagen im nassen Nebel, und der Schotterweg war von Pfützen gesäumt. Ausgestattet mit Rucksack, Tabakbeutel, Regenjacke, Wanderstiefeln und meiner Abenteuermütze stapfte ich durch die Pfützen zum Gleis. Es regnete nicht in Strömen, aber doch kräftig genug, um den Wunsch nach einem Schirm zu wecken, während ich mich unter dem Bahnhofsunterstand ins Trockene rettete. Der Zug fuhr mit leichter Verspätung ein – nicht anders erwartet. Im letzten Abteil auf der linken Seite ergatterte ich einen höhergelegenen Fensterplatz und ließ meinen Blick durch die verregnete, neblige Landschaft schweifen. In meinen Kopfhörern begleitete mich die passende Lektüre für eine Reise nach Lübeck: Die Buddenbrooks.

Während ich mich Göttingen näherte, lauschte ich dem Aufeinandertreffen von Toni Buddenbrook und dem jungen Göttinger Studenten Morten in Travemünde. Als ich in Göttingen den Anschlusszug einfahren sah, durchströmte mich Erleichterung. Es war ein doppelstöckiger Zug mit kleinen Tischen und Viererplätzen samt Steckdosen – die natürlich defekt waren. Trotzdem war der Platz gemütlich. Zehn Minuten vor Abfahrt stieg ich ins obere Stockwerk, suchte mir einen Fensterplatz mit Tisch und Bildschirmblick und machte es mir für die nächsten zwei Stunden bequem. Ich lauschte weiter der Verlobung von Toni und Morten.

Gegen halb elf, kurz vor Hannover, streckte ich mich. Müdigkeit machte sich breit, und ich bereute es, am Morgen keinen Kaffee gekocht zu haben. Der Bahnhof Hannover ist vergleichsweise groß – nicht Frankfurt-am-Main-groß, aber eben Hannover-groß. Von meinem erhöhten Sitzplatz wirkte alles ein wenig kleiner. Ich hörte weiter den Buddenbrooks zu, ärgerte mich über Toni, die sich tatsächlich für den nervigen Geschäftsmann entscheidet, und skizzierte nebenbei ein wenig. Zum Frühstück gab’s Nüsse, ein Knoppers und einen Salamistick, die ich mir für die Fahrt eingepackt hatte. Ich notierte unkonzentriert ein paar Gedanken zu meinem Hörspielpitch. Mit wachsendem Kaffeedurst und Appetit wurde ich langsam ungeduldig – drei Stunden Fahrt lagen noch vor mir. Der Blick aus dem Fenster streifte Gleise, Bahnhöfe und Landschaft. Es regnete zwar gerade nicht, doch draußen wirkte es kalt und ungemütlich. Die dichte, graue Wolkendecke spannte sich über den Himmel, nur hinter mir schimmerte ab und an ein kleines Stück blauer Himmel zwischen den weißen Wolkentupfern hervor. Ich fuhr also ins schlechtere Wetter. Ob das wohl so bleiben würde? Neben mir fuhren ICEs ein und REs aus. Reisende standen mit Taschen und Koffern am Gleis, während andere hastig Richtung Anschluss eilten. An ihren flatternden Haaren erkannte ich, dass es windig war. Ich fröstelte bei dem Gedanken, jetzt im kalten Wind in Hannover stehen zu müssen – aber mein Platz im Zug war neben der Heizung, angenehm warm. So warm, dass ich stellenweise sogar meinen Wollpullover auszog und im gerippten T-Shirt ohne zu frieren weiterfuhr. Für einen Tag Anfang Juni war es überraschend kühl.

Gedanken über den Lauf der Zeit

In den letzten Jahren habe ich das Zeitgefühl für die Jahreszeiten ein wenig verloren – zu viel Bildschirm, zu wenig Natur, zu wenig Gelassenheit. Früher, zu Schulzeiten, gaben Ferien, Feiertage und Klausurphasen dem Jahr Struktur. Man konnte sagen: „Letztes Jahr um diese Zeit waren wir am See, es war brüllend heiß.“ Heute fehlen solche Vergleichspunkte. Die Monate verschwimmen, werden monotoner. Vielleicht gehört das zum Erwachsenwerden dazu. Umso wichtiger, dass ich mir mit diesem Bericht vor Augen halte: Heute, am 6. Juni 2025, ist ein kühler, regnerischer und windiger Tag. Ich bin unterwegs durch das Land – auf dem Weg, eine kleine Reise zu tun. Noch immer steht der Zug. Ich frage mich, ob das geplant ist. Und wann ich wohl endlich zu einem Kaffee komme? Drei Stunden bin ich nun unterwegs – doch es kommt mir nicht so vor. Vielleicht, weil noch einmal drei Stunden vor mir liegen. Vielleicht erklärt das, warum ich langsam müde werde. Ich will nicht mehr produktiv sein, vielleicht schaue ich gleich eine Serie, höre weiter Hörbuch oder versuche doch noch meine Gedichte zu überarbeiten.

Nächster Halt: Uelzen

Nachdem ich noch ein wenig gemalt, ein paar Nachrichten geschrieben und eine Folge eines Animes gesehen habe, freue ich mich darauf, meinen gemütlichen Platz im Zug bald zu verlassen und meinem Ziel näherzukommen. Mein Zug endet in Uelzen. Inzwischen sehe ich mehr Blau am Himmel, und die Wolken sind weiß und grau getupft. Hinter mir scheint sogar ein wenig die Sonne auf mich hinab. Ich glaube, das Wetter wird sich bessern – und mein Ausflug erfolgreich. Vorausgesetzt, ich werde nicht allzu schnell müde.

Am Gleis gab es nichts, das aussah, als würde es Kaffee verkaufen, also begnügte ich mich damit, Zigaretten zu rauchen. Das Wetter ist wesentlich milder, als ich es erwartet hatte – dennoch war es windig. So windig, dass mein Drehpapier einen sanften Segelflug ins Gleisbett hinlegte. Während ich im Raucherbereich des Gleises stand, spielte ich mit dem Gedanken, einen Tag länger in Lübeck oder Umgebung zu bleiben. Einige der Fahrgäste aus meinem Zug standen genau wie ich am Gleis und warteten auf den gleichen Anschlusszug. Interessante Menschen, schüchterne, belustigte Blicke.

Umgestiegen in Uelzen und nun im Zug nach Hamburg. Neuer Zug, neue Aussicht. Bis Hamburg will ich zwar nicht fahren, doch auch dieses Ziel wäre sicher eine Reise wert.

Nun sitze ich hier auf dem letzten Drittel meiner Reise und bin gespannt, was der Tag noch bringen mag. Ob jemand hier dasselbe Ziel hat wie ich? Ich mag es, mal die spontane Art auszuprobieren und habe mir keine konkreten Pläne gemacht. Ich habe mir vorgenommen, in einem schönen Café zu verweilen, mir den Marktplatz und die Altstadt anzusehen – und natürlich Marzipan zu essen. Bei gutem Wetter wollte ich nach Travemünde reisen, doch wie es aussieht, ist das Wetter nicht so besonders. Aber wer weiß, was mich noch erwarten mag.

Reisen ist immer wieder ein Erlebnis. So trifft man fremde Menschen, die man wahrscheinlich nicht wiedersieht – oder womöglich doch das gleiche Ziel haben.

In meinen liebsten Agatha-Christie-Geschichten spielen Zugreisen sowie die Reisenden eine bedeutende Rolle. Auch ich werde irgendwann einen Fall in einem Zug schreiben. Wer weiß – vielleicht kommt ja gerade heute die Inspiration dazu.

Dazu fehlen allerdings noch spannende Beobachtungen, Gespräche mit Fremden und Fragen über Sinn und Ziel. Damit meine ich noch spannendere Beobachtungen als die, dass jemand, der im Zug noch Zigaretten drehte, plötzlich eine Filterzigarette im Aschenbecher ausdrückt. Wobei das vielleicht doch ein Anfang sein könnte – zugegeben, nicht der für einen superspannenden Kriminalfall, aber für eine kleine Geschichte eines Reisenden.

Gerne würde ich mal wieder in einem Zug mit echten Abteilen reisen, keinem Großraumabteil. Wobei dies auch spannend sein kann: so viele Menschen in einem so kleinen Gefährt zu beobachten, die in zwei Lagen übereinander in eine Büchse voller Geschwindigkeit gepresst sind – alle mit ihrem eigenen Leben, eigenen Werten, eigenen Zielen.

Reisegedicht 1: Reise-Menschen

Oh, welch spannende Reisebegleitung,
kein Kennen und keine Erwartung,
nur ein Hauch von Hoffnung darauf,
dass das, was mein Ziel ist, deins auch.

Zu dem Rauschen über die Schienen geschwind,
zieht zwischen den Bäumen am Fahrbahnrand der Wind.
Müde Gesichter auf ihren Plätzen –
steht Verspätung an, dazu Entsetzen.

Selten reisen Menschen so wie ich,
nirgendwo erwartet, bei Tisch.
Allein und selbstständig – das hält frisch.

Weiterfahrt ab Lüneburg

Nach meinem schnellen Umstieg in Lüneburg fiel mir als Erstes die Bandansage im Zug auf. Sie war zwar automatisch, aber so gut gelaunt, dass es mich verwunderte. Das fand ich geradezu ungewöhnlich sympathisch. Willkommen und Moin, heißt es hier. Jetzt sitze ich in meinem letzten Zug – auf dem Weg nach Lübeck. Wieder steht mir eine anderthalbstündige Fahrt bevor, die ich an einem Tresentisch verbringe.

Mir gegenüber eine Dame, zeitunglesend, und nebenan ein junger Mann, der mir auch bereits im letzten Zug gegenüber saß und am Gleis den Segelflug meines Drehpapiers beobachtete. Ich beobachte meine Umgebung. Die Dame liest eine Zeitung aus Lüneburg – also wird sie wohl von dort kommen. Die Sitze im dunklen Bahnblauton, die Tische in hellem Wolkenblau. In diesem Verkehrsbetrieb bin ich noch nie unterwegs gewesen.Nun sieht die Landschaft, die wir in der Blechdose durchqueren, schon etwas munterer aus: die Wolken eher weiß, und die Felder um die Strecke herum weit.

Durchhalten, denke ich – der Kaffee kommt bald.

Seit der Zug Buchen passiert hat, ist es brechend voll. Dazu gesellt haben sich eine Gruppe von Teenagern auf Schulreise, Familien mit Kleinkindern – wobei ein Mädchen, das in meinem Vierer saß, gerade Schreiben und Lesen lernte. Für die fremden Erwachsenen drumherum war das eine freudige Tätigkeit, die sie mit Begeisterung beobachteten und ab und an Hilfestellung gaben.

Welch interessante Gegenbühne, die mich immer wieder fasziniert: dass im Zug so unterschiedliche Gesellschaften zusammentreffen – wahrlich nicht freiwillig. Alle Menschen mit so unterschiedlichen Belangen. Gerade Teenager sind eine spannende Spezies, die mit ihren Problemen und Ausdrucksformen eine ganze Welt für sich einnehmen, während sie sich selbst nachgeben. Viel bewerten und noch mehr urteilen. Anders da die kleinen Vorschulkinder, die vor allem staunen, betrachten und erleben. Sie interessieren sich nicht für Labels, was wer zu anderen sagt und ob er es auch so meint – was bei den Teenagern eine so hohe Bedeutung hat.

Reisegedicht 2: Generationen im Zug


Zwischen dem Schreibenlernen
und dem Erwachsenwerden,
zwischen dem Schlechte-Laune-Verderben,
zwischen dem Gute-Manieren-Verlernen,
und dem sich selbst Erwärmen,
und für die erste Liebe Schwärmen –
lernen, leben, lieben und dann sterben.

Mit Watson nach Lübeck

Einer der jungen Herren, mit denen ich gereist bin, nahm ebenfalls den Anschlusszug nach Lübeck, und wir kamen nach einigen Blicken – begünstigt durch die Enge und das Gedränge – ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass er angehender Erzieher war, und wir unterhielten uns über die Vorzüge und Anstrengungen dieses Berufsstandes. Über meine Abenteuermütze kamen wir schließlich auf Sherlock Holmes zu sprechen. Auch er hatte eine Vorliebe für den britischen Detektiv und so tauschten wir uns ein wenig darüber aus, bis wir in Lübeck ankamen.

Als wir den Bahnhof verließen, fragte ich ihn, ob er sich hier auskenne und mir den Weg zum Busbahnhof zeigen könne. Mit einem „Auf geht’s, Watson“, ließ ich mich vom Gleis leiten, und wir gingen gemeinsam hinaus. Wie sich herausstellte, würde Watson an diesem Tag mit seiner Mary noch weiter nach Polen reisen. Mit einem amüsierten Lächeln und dem Satz: „Ich dachte, ich hätte eine lange Reise vor mir“, verabschiedete ich mich. Ich reichte meinem Reisegefährten die Hand, wünschte ihm in Gedanken alles Gute – und wanderte weiter Richtung Busbahnhof.

Dort stieg ich eher blindlings in einen Bus, der – wie ich auf Nachfrage bei einer anderen Touristin erfuhr – in die Innenstadt fuhr. Der Bus hatte ein ordentliches Tempo drauf, sodass ich die umliegende Landschaft, inklusive der Trave, kaum betrachten konnte. Zuerst hatte ich mit dem Gedanken gespielt, zu Fuß zu gehen, doch da der Zug nach Lübeck so voll gewesen war, dass die Toilette unzugänglich blieb, wollte ich zunächst ein Café aufsuchen, um meinen heiß ersehnten Kaffee zu trinken – und um endlich eine Toilette zu benutzen.

Ankunft und erster Tag in Lübeck

Nachdem mir die Stadt auf den ersten Blick überfüllt erschien – ebenso wie der Bäcker, den ich zunächst angesteuert hatte –, landete ich schließlich auf dem Marktplatz und entdeckte das Arkadencafé. Davon hatte ich schon gelesen, und es wäre ohnehin ein Aufenthaltsort für mich geworden. Warum also nicht gleich als erster Stopp?

Der kleine Glaskasten in den Arkaden ist mit grauweinroten Stühlen ausgestattet. Vorne an der Theke stehen verschiedene Marzipantortenstücke. Ein Marzipan-Nuss-Stück lächelte mich gleich an – für 4,60 € entsprach es sogar meinem Budget. Ich setzte mich in die hinterste Ecke des Glaskastens, sodass der Marktplatz und der Außenbereich hinter mir lagen. Auf dem Platz lief Musik, einige Stände waren halb aufgebaut. Bei näherem Hinsehen erkannte ich: Weinstände. Ein schneller Blick ins Netz bestätigte, dass an diesem Wochenende ein Weinfest stattfindet. Auch das Café, bei dem sich heute Abend die Teilnehmenden der Krimi-Stadt-Tour treffen sollen, entdeckte ich gleich. So fühle ich mich inzwischen zumindest ein wenig orientiert in dieser Stadt.

Aus der Speisekarte entnahm ich, dass es in diesem Marzipancafé auch Cappuccino mit Marzipan gibt – mein touristisches Ich bestand darauf, diesen zu probieren. Er ist – wie erwartet – unfassbar süß, und ich muss später unbedingt noch irgendwo einen normalen Kaffee oder Latte trinken.

Der Kellner im Arkadencafé lächelte so breit, dass es mich fast überforderte. Er fragte, ob ich noch auf jemanden warte – natürlich. Eine allein reisende Frau, die auch noch jünger aussieht, als sie ist, kann ja kaum freiwillig allein unterwegs sein.

Ich will hier noch zu Ende schreiben, denn so wirklich wohl fühle ich mich nicht zum Verweilen. Dafür ist die Cappuccinotasse für fünf Euro viel zu klein. Der Kuchen allerdings trifft genau meinen Geschmack: ein Stück Nuss-Marzipan-Sahne-Torte. Ich muss später unbedingt Marzipan-Souvenirs für meine Familie und Freunde kaufen.

Ich freue mich sehr auf die Krimitour und auf ein kräftiges Abendessen. Im Moment wollte ich nur die Zeit totschlagen, bis ich einchecken kann – das klappt anscheinend ganz gut. Wenn ich Kaffee und Kuchen genossen habe, mache ich mich auf den Weg zur Unterkunft – und hoffe inständig, dass keine Klassenreisen stattfinden. Die Klasse im Zug hat mir definitiv gereicht.

Ich mag es, das Treiben auf dem Marktplatz zu beobachten – die Gruppe von Touristen oder was auch immer das ist. Dafür muss ich mir später noch einen anderen Aussichtspunkt mit Café suchen.

Meine Unterkunft befindet sich in der Straße, in der die Buddenbrooks aus der Geschichte lebten – eine schöne Gelegenheit, mir vorzustellen, wie die gute Toni die Straße hinauf- oder hinabspazierte.

Die Herberge ist auch für meine Verhältnisse vollkommen ausreichend und sehr gemütlich. Auch der Hauswirt ist äußerst freundlich und zuvorkommend. Er gab mir Ideen für den Abend, wo ich noch auf ein Bier einkehren könnte – zum Beispiel in den Studentenkneipen in der Clemensstraße. Er stellte mir sogar einen Reiseführer zur Verfügung, in dem ich während einer Zigarette vor der alten Fassade der Herberge schmökern konnte.

Unterkunft

Ich habe mein Zimmer bezogen – ein Vierbettzimmer im zweiten Stock der Burgtor-Jugendherberge. Ich habe das obere Bett am Fenster genommen. Abgesehen davon, dass es ziemlich knarrt, ist es sehr schön. Ich bin gespannt, mit wem ich dieses Zimmer teilen werde.

Nachdem ich die Sanitäranlagen besichtigt hatte, ging ich gleich zurück in die Stadt.

Stadtbummel

Als Erstes stand Souvenirs kaufen auf dem Plan: für mich ein neues Bandana in Grau, für meinen Kumpel ein paar Postkarten und für Familie und Freunde natürlich Lübecker Marzipan.
Der Marzipanladen war ein Erlebnis für sich: klassische Musik, Marzipan in allen Formen, die man sich nur vorstellen kann – Früchte, Brote, riesige Packungen, kleine Packungen, individuell zusammenstellbar. Ich habe mir eine kleine Auswahl zusammengestellt und für meine Großeltern eine „Grüße aus Lübeck“-Packung mitgenommen.

Danach bin ich durch die Stadt gewandert – von Altstadtgebäude zu Altstadtgebäude. Ich habe viele Kirchen gesehen, ein Foto mit dem Teufel gemacht und bin weiter, weiter und weiter, bis ich irgendwann am Wasser ankam.

Dort beobachtete ich, wie ein Schiff ablegte. Ein kräftiger Mann holte das Tau ein. Gerade in dem Moment, als ich mich fragte, ob ich morgen vielleicht auch Zeit für eine Bootsfahrt habe, erklang ein lautes Signal – das Zeichen zum Ablegen.

Ich wanderte an der Trave entlang, begutachtete eine große Anzahl alter Schiffe, sah, wie das Wasser glitzerte, und entdeckte sogar ein paar Möwen. Zuerst hörte ich nur ihre Schreie und war verwirrt – bis mir wieder einfiel, dass ich hier viel nördlicher bin.

Das Heimlicht

Inzwischen ist es schon halb sechs, und ich bin seit dem Einchecken um 15 Uhr nur gelaufen – langsam bin ich erschöpft. Nahe der Trave habe ich ein weiteres Ziel meiner Reise gefunden: das Heimlicht.

Ich muss kurz einwerfen, wie toll mir das Heimlicht gefällt. Bisher lief hier nur Musik, die auch in meiner Playlist ist. Die regionale Orientierung finde ich super, und ja – ich wollte hierher, bevor ich überhaupt in Lübeck war. Denn für ein Lokalcafé-Idee für Hann. Münden finde ich ein solches Konzept sehr inspirirend. Ich bin begeistert und wäre gern noch eher hier gewesen.

Ich muss zwar noch zu Abend essen und habe um 20:30 Uhr die Tour – aber ich könnte ewig hier bleiben. Jetzt blicke ich zum Fenster hinaus, sehe die Möwen über das Wasser gleiten – und fühle mich so wohl hier, dass ich am liebsten nie wieder gehen möchte.

Ich habe mir einen Latte Macchiato bestellt, da ich Sorge habe, langsam zu müde zu werden – insbesondere angesichts der vielen Kilometer, die ich heute gelaufen bin. Der Latte Macchiato ist liebevoll gemacht – mit einem Herz darauf. Es ist so wunderschön, hier zu verweilen.

Abendessen und Weinfest

Abendessen im Erdapfel

Inzwischen sitze ich in einem Lokal namens Erdapfel am Marktplatz und habe eine durchweg sättigende, mit allerlei Köstlichkeiten gefüllte Kartoffel gegessen. Dazu trinke ich ein großes Alster. Für 12 Euro bin ich satt, zufrieden und kein bisschen durstig – bei angenehmer Küche. Ich bin geradezu begeistert vom Preis-Leistungs-Verhältnis.

Mein Blick schweift über den Marktplatz, wo das Weinfest stattfindet. Die starken Regenschauer treiben die Besucher unter die Schirme. Geradezu im Minutentakt ändert sich die Wetterlage: von windigem Regen zu Starkregen, dann wieder zu Sonnenschein. All das zusammen zeigt ein spannendes Treiben.

Heute fiel mir auf, dass sämtliche Wappen an den alten Stadtgebäuden leicht nach links geneigt sind – nie gerade. Warum das so ist, frage ich mich seither.

Ein Anblick, der mich ebenfalls beschäftigt hat, war die Mischung aus moderner Architektur und Altstadt. Moderne, großflächig verglaste Klotzbauten zwischen altertümlichen Gebäuden könnten stimmig wirken – tun es aber für mich nicht. Ich wünsche mir, eine Stadt zu finden, in der die Ambivalenz zwischen Moderne und Tradition harmonisch aufgeht.

Was hingegen stimmig wirkte, war der Marzipanladen – ein Erlebnis, das ich nicht vergessen möchte. Ich hätte mich dort gern noch länger und in Ruhe umgesehen, doch irgendetwas trieb mich weiter. Viele Menschen, und ich mit meiner zwar großen, aber überwiegend leeren Geldbörse. Verhältnismäßig habe ich trotzdem einiges dagelassen und mitgenommen, inklusive eines kleinen Stoffbeutels als Andenken für mich. Für jedes Budget findet sich dort etwas – das hat mir gefallen.

Auch die Lokale, in denen ich eingekehrt bin, haben mir gefallen. Den Besuch in den Arkaden empfand ich dabei am wenigsten reizvoll – abgesehen von der Torte. Es war eher ein Pflichtbesuch. Das Buddenbrookhaus habe ich noch nicht besucht, höre aber seit gestern fleißig das Hörbuch und lausche dem Verfall einer Familie.

Ich spiele noch immer mit dem Gedanken, einen weiteren Tag in Lübeck zu verbringen. Ich habe heute viel gesehen, viel erlebt – aber wenig verweilt. Ein Tag in Ruhe würde mir gut tun. Ich würde gern eine Bootsfahrt machen. All das, plus Verpflegung, würde die Kosten zwar etwas steigern, aber die heutige Tour und ein weiterer Ausflug morgen würden sicherlich neue kreative Ideen bringen

Krimitour

Während ich am Miniaturstadtmodell am Marktplatz stehe und auf die Teilnehmenden der Krimitour wartete, beobachtete ich ein kleines Mädchen, das mit einer umgebundenen Schürze und einer großen Schale Käse, die die Gäste des Weinfestes bediente. Sie hatte viel Spaß – ich denke, ich hätte das auch.

Während der Krimitour war es schwer, Notizen zu machen, weshalb dieser Teil meines Reisejournal wohl etwas anders ausfällt. Die Gruppe war überwiegend weiblich und angeheitert vom Weinfest. Natürlich war auch niemand, abgesehen von mir, allein gekommen. Unser Tourguide arrangierte sich mit den Teilnehmenden – auch mit den beschwipsten Damen – und wir stapften los. Die meisten kamen aus Lübeck oder der Umgebung; ich war wohl eine der Fremdesten in der Runde.

Auf der Tour hörten wir von allen möglichen Verbrechen, denn genau genommen war es eine „Sex and Crime“-Tour.

So lauschte ich belustigt der Geschichte des legendären Gefängnisausbrechers, der in der Gefängnisschlosserei arbeitete und mithilfe eines Gabelstaplers fliehen konnte. Er soll sich anschließend zu einem ausgiebigen Lachsfrühstück in der Lübecker Innenstadt niedergelassen haben, bis eine Radiomeldung über seine Flucht ihn weiterziehen ließ. Da der Mann bereits mehrfach entwischt war, wird er inzwischen alle paar Jahre vorsorglich in ein anderes Gefängnis verlegt.

Wir hörten von den Kirchenfälschungen in der Marienkirche und einer dubiosen Apotheke, in der kurioses Wissen gesammelt wurde – etwa, dass man sich zur Zeugung eines Mädchens oder eines Jungen jeweils einen bestimmten Hoden abbinden solle.

Auf dem Weg durch die Stadt erfuhren wir einiges über die alten Pornokinos, die es längst nicht mehr gibt. Der Ausdruck Rubbelschuppen für ein Pornokino ist mir im Gedächtnis geblieben – ebenso wie die „dänischen Kaffeefahrten“, wie ich sie nannte: Ausflugstouren von deutschen Männern, die sich in Dänemark mit Pornos eingedeckt haben.

Während wir am Willy-Brandt-Haus (war es das?) vorbeigingen und uns dubiose Geschichten über von der Stasi gesponserte Prostituierte anhörten, fragte ich mich, ob Willy Brandt so etwas wie der deutsche Bill Clinton war – und erinnerte mich an meine Schulzeit auf der Willy-Brandt-Schule.

Unsere Tour führte uns weiter zur Sparkasse, wo uns von einem Bankraub erzählt wurde. Sozusagen hatte Spiderman die Bank ausgeraubt – er stieg über das Dach des Theaters ein und knackte die Sparbuchfächer. Warum gerade die? Weil das Geld darin nicht versichert war. Die Fächer wurden wohl als Schwarzgeld-Depots genutzt. Ähnliche Einbrüche gab es auch bei der Deutschen Bank und anderen. Doch wie kam „Spiderman“ in den Tresor? Gab es einen Insider? Ein dubioser Privatdetektiv, der früher ein Bordell betrieb, übernahm den Fall – doch gelöst wurde er bis heute nicht.

Auf unserem weiteren Weg durchquerten wir einige der berühmten Lübecker Gassen und Höfe. Um 1634 waren diese Gänge günstiger Wohnraum. Wir erfuhren die tragische Geschichte einer jungen Frau, die von ihrem Verlobten geschwängert und dann verlassen wurde. Sie trug das Kind heimlich aus, ganz allein, und warf es aus Verzweiflung in die Trave. Mit Unterstützung ihrer Nachbarinnen unternahm sie einen Fluchtversuch, wurde jedoch geschnappt und letztendlich hingerichtet. (Ich musste an Rousseau und das Waisenhaus für Findelkinder denken – doch so etwas gab es in Lübeck anscheinend nicht, zumindest nicht laut dem Tourführer.)

Clemensstraße

Der letzte Stopp unserer Tour war die Clemensstraße. Von dieser hatte mir der Wirt der Jugendherberge schon erzählt – dort seien die Studentenkneipen. Auf der Tour erfuhr ich dann, dass es sich früher um den Strich von Lübeck handelte, beziehungsweise um das ehemalige Prostitutionsviertel.

Es war sehr interessant, über die Gegebenheiten von Prostitution in früheren Zeiten zu hören – über Steuern und Kleidungsvorschriften. So mussten Prostituierte früher Schwarz tragen; erst nach der Reformation änderte sich diese Farbordnung. Während wir dem Vortrag lauschten und ich diese Information noch verarbeitete, lief eine junge Frau an unserer Touristengruppe vorbei – offenbar auf dem Weg zum Feiern in der Clemensstraße. Sie war komplett schwarz gekleidet. Ein Schmunzeln entging mir und einem weiteren Teilnehmer nicht. Eine Kleiderkennzeichnung gibt es zum Glück nicht mehr.

Bei diesem Vortrag wurde ich auch mit einigen neuen Bezeichnungen für Prostituierte konfrontiert. Einige davon sind mir im Gedächtnis geblieben. Fangt damit an, liebe Lesende, was ihr wollt – ich berichte nur: schwarze Henne, lange Anna, Else mit den langen Titten, Schwanenfeger, Fischragout, Schlampe bei der Treppe und Kontrollmädchen. Letztere wurden so genannt, weil Angehörige dieses Gewerbes regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen erscheinen mussten. Was sich zunächst fortschrittlich oder hygienisch anhört, verliert schnell seinen Glanz, sobald man die Bedingungen dieser Untersuchungen kennt.

Alles in allem war es eine spaßige, teils spannende Tour, die mir ein paar Inspirationen und eine Menge neuer Informationen beschert hat. Da die Tour auch kurz nach der Clemensstraße endete, entschloss ich mich, dorthin zurückzugehen und im Blauen Engel – ja, einem ehemaligen Etablissement – einen Absacker zu trinken. Beim Durchqueren der Clemensstraße fiel mir auf, dass dort Sicherheitspersonal unterwegs war. Spannend, dachte ich und fragte mich wie es wohl zu früheren Zeiten hier ausgesehen hatte.

Blauer Engel

Den Blauen Engel würde ich am ehesten beschreiben als eine Mischung aus Lolitabar und Mutter (womit nur Kasseler, Kasseländer und Kasselaner etwas anfangen können). Es gibt Musik, chillige Ecken und sogar ein Bücherregal. Die Wände sind dekoriert mit Spiegeln und Bildern von ... Dirnen? Eine Diskokugel hängt von der Decke – allerdings ist es keine Raucherkneipe. Wir sind ja auch nicht in Niedersachsen, dachte ich amüsiert.

Die Decken sind stuckbesetzt, die Wände haben abgerockte Backsteinoptik oder sind rot gestrichen. Gemütliche Sessel und Sofas, Barhocker und Stühle füllen den Raum. Der Boden ist altmodisch gemustert gefliest.

Jetzt sitze ich hier im Blauen Engel in Lübeck. Mein Akku ist fast leer und meine Powerbank powert irgendwie nicht. Aber ich dachte gerade: Ich bin so weit weg von Zuhause, an einem Ort, wo mich niemand kennt – ich könnte mich ganz neu erfinden. Doch das will ich nicht. Denn ich bin mit mir zufrieden, so wie ich bin. Ich bin happy, ich zu sein.

Nach meinem Bachelor das erste Mal auf Tour – allein mit mir selbst, und happy darüber. Gern hätte ich noch mit ein paar Leuten gequatscht, aber mein Geld war alle, und ich trank mein letztes Bier. Mal schauen, was wird. Für mein letztes Bier setzte ich mich zu zwei Mädels in meinem Alter, die aus der Nähe von Lübeck kamen. Sie waren Schwestern, die sich auch länger nicht gesehen hatten. Wir quatschten ein bisschen – oberflächlich – über das Alleinreisen, über Lübeck, Berufe und dies und das bevor ich mich auf den Heimweg machte.

Das Irish Pub – und danach

Nachdem ich meine zweite Rakete geleert hatte, machte ich mich auf den Weg in die Jugendherberge. Doch gerade als ich in die Mengstraße einbiegen wollte, unten an der Ecke, hörte ich Musik – Livemusik aus einem Pub. Einem irischen Pub. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr in einem Irish Pub gewesen. Eine magische Kraft aus Neugier, Spontaneität und Lebenslust zog mich in das Lokal. Da ich mein gesamtes Bargeld bereits ausgegeben hatte, fragte ich zuerst, ob ich ein Bier mit Karte zahlen könne – denn eigentlich wollte ich nur für einen Absacker bleiben und die Musik genießen.

Der Wirt passte perfekt in den Laden: rötliche Haare, ein lockeres Auftreten und eine leicht kreativ-verpeilte Art. Ich mochte ihn vom ersten Moment, und er mochte mich auch. Kein Ire, aber stimmig. Wir waren uns sofort sympathisch.
Er wies mir den Weg zum nächsten Geldautomaten, doch weil ich dort Gebühren hätte zahlen müssen, entschied ich mich dagegen und meinte lachend, ich würde lieber neue Bekannte finden, mit denen ich gemeinsam trinken kann, als mein Geld der Bank zu geben. Er lachte und führte mich direkt in die Gesellschaft des Lokals ein: Unten, erklärte er, säße eine Gruppe Dänen – kontaktfreudig, herzlich. Oben sei eine Gruppe von Schauspielenden, gerade tief in ein Gespräch vertieft, aber ebenfalls offen für Begegnungen.

Irgendwo in der Nähe des Pubs habe ich mich verewigt, denn ich war hier und hier war es toll!

Ich kam gar nicht erst nach oben, sondern landete direkt bei den Dänen. Wir unterhielten uns auf Englisch, ein bisschen auch auf Deutsch. Einer von ihnen sprach mit einem schottischen Akzent, wie ich ihn im echten Leben noch nie gehört hatte. Ich hatte großen Spaß an den Gesprächen. Auch der Wirt kam immer wieder auf einen Plausch vorbei. Ich vertraute ihm sogar mein Handy an, damit ich später mit Akku den Laden verlassen konnte – er gab sich wirklich Mühe. Die Musik kam von einem Musiker namens Brown, mit dem ich später noch ins Gespräch kam. Ich bedankte mich für seine musikalische Begleitung und fragte ihn ein wenig aus.

Später lernte ich eine junge Frau kennen, mit der ich mich über den Abend hinweg immer wieder unterhielt. Einer ihrer Bekannten – oder vielleicht auch ein Unbekannter – fragte den Musiker, ob er kurz selbst etwas spielen dürfe, und durfte. Brown war froh über die Pause und hörte zufrieden zu. Ich forderte meine neue Bekannte zum Tanzen auf, und wir tanzten voller Freude durch das kleine Lokal. Immer wieder sprang ich von Gespräch zu Gespräch. Ich traf auch ein paar Leute von der Krimi-Tour wieder. In einem Gespräch mit einem Dänen versanken wir in Themen wie Katzen, Gedichte, Kunst und das Leben – bis plötzlich ein Rockabilly-Song erklang. Ich entschuldigte mich, stürmte auf die Tanzfläche und legte eine lebensfrohe Rock’n’Roll-Einlage hin – bis ich völlig außer Atem war.

Mac Thomas. Das war ein Erlebnis. Ich traf Menschen, trank mit Dänen, tanzte zu Rockabilly, verstrickte mich in Gespräche, diskutierte über Beziehungen mit Altersunterschieden, tauschte mich über Soziologie und Berufliches aus – und verliebte mich ein bisschen in Lübeck. „Dies muss ein toller Ort zum Wohnen sein“, dachte ich.

Der Wirt fragte mich, ob wir nach seiner Schicht noch weiterziehen wollten. Obwohl ich bereits erschöpft war, sagte ich ja – zu neugierig war ich darauf, ihn näher kennenzulernen. Während seines Dienstes war kaum Zeit für ein richtiges Gespräch gewesen, doch die kurzen Fetzen hatten gezeigt, dass wir uns gut verstanden. Am Ende des Abends standen ein Freund des Wirtes und ich vor der Kneipe und warteten auf ihn. Es war gar nicht so leicht, noch ein Lokal zu finden, denn viele machten gerade dicht. Trotzdem genoss ich es sehr, mit Einheimischen durch die Stadt zu ziehen. Wir unterhielten uns über Redewendungen, dies und das – und ich stellte fest, dass der Freund des Wirtes ursprünglich aus dem Rheinland kam. Als Kind des Ruhrpotts hatte ich viel zu erzählen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Schließlich landeten wir in der letzten Kneipe – der wirklich letzten. Ihr Charme erinnerte mich an den „Onkel Paul“ in Hann. Münden. Die Wirtin, Bianca, mochte unsere bunte, durchmischte Gruppe und ließ uns so lange bleiben, wie es nur ging. Wir redeten über das Älterwerden, über Traditionen wie das „Treppe fegen“ zum 30. Geburtstag, über das „Moin“ und den „Pott“ – über alles Mögliche. Die Zeit verflog. Als Bianca schließen musste, gab sie uns noch ein paar Flaschen Bier, ein paar Becher und eine Sprite auf den Weg. So zogen wir weiter zur Aussichtsplattform am Hansemuseum, um den Sonnenaufgang zu erleben.

Dort saßen und standen wir, im leichten Nieselregen, erzählten, erzählten, erzählten. Über Familienkonstellationen, gescheiterte Beziehungen, tolle Erlebnisse und Kunst. Alle drei waren wir kreativ: Einer spielte uns einen Song vor, ich trug ein Gedicht vor, und wir diskutierten über Poetry Slams. Ich fror, war müde, aber voller Glück – den Sonnenaufgang beobachteten wir nicht direkt, aber wir bemerkten, wie es heller wurde. Wir diskutierten über Himmelsrichtungen, lachten viel, und irgendwann sah ich auf die Uhr: Es war eine schreckliche Zeit, um in die Herberge zurückzukehren. Da ich ein Mehrbettzimmer hatte, wollte ich niemanden mit meinem angeheiterten Auftreten wecken. Also beschloss ich, wach zu bleiben – bis zum Frühstück. Wir machten also die Nacht durch. Inzwischen war ich 24 Stunden wach, aufgekratzt von Eindrücken, ausgelaugt von den rund 30 Kilometern, die ich durch Lübeck gelaufen war. Wir machten ein gemeinsames Abschiedsfoto und gingen zurück zur Herberge.

Liebe Party-People, falls ihr das hier einmal lest: Vielen Dank für eure Gesellschaft. Es war mir ein Fest, euch und Lübeck kennenzulernen. Glaubt an euer kreatives Potenzial – und macht was draus.

Der frühe Morgen vor dem Hansemuseum

Der nächste Tag – Ausflug nach Travemünde

Heute Morgen musste ich das Zimmer wechseln. Meine „ehemalige“ Mitbewohnerin war eine tolle junge Frau, die eine Pause von ihrer Bachelorarbeit brauchte. Sie schreibt über den gesellschaftlichen Umgang mit Neurodivergenz, insbesondere ADHS – und ging auf die Schule, in der ich als Teenager lebte. Das ist alles ein Riesenzufall. Oder einfach das Schicksal, das mich mit den richtigen Menschen umgeben will.

Ich habe ganze 90 Minuten in meinem neuen Zimmer nach dem Umzug geschlafen – jede Minute meines Urlaubs koste ich aus. Ich weiß nicht, ob es der Schlafmangel ist oder einfach das Glück, aber ich könnte vor Freude heulen über das, was ich hier erlebe. Es hätte alles nicht schöner kommen können. Denn inzwischen ist Samstag, der 7. Juni, und ich bin gerade an der Ostsee angekommen. In Travemünde. Und nicht nur das: Hier findet auch das Seebadfestival statt, sodass der Pier von Trubel und Live-Musik beschallt wird, während der Strand ruhig und erholsam daliegt. Ich kann eine perfekte Mischung aus beidem mitnehmen.

Mein Ausflug nach Travemünde war genau das Richtige, um mich von den Anstrengungen des Alltags und den Strapazen des letzten Tages zu erholen. Obwohl ich so wenig geschlafen hatte und meine Füße noch immer erschöpft waren, bin ich mehrmals den Strand rauf und runter gelaufen. Es war wunderschön. Ich hoffe, das Rauschen der Wellen noch lange im Herzen zu tragen – und mich in stressigen Situationen daran zurückerinnern zu können.

Der Regen am Strand, der ab und an aufkam, hat mich kaum gestört. Es ist vielleicht die norddeutsche Mentalität, doch mit einer guten Regenjacke macht mir das nichts aus. Ein Schirm wäre wohl eher etwas für Fortgeschrittene – wie ich am Pier bei den Einheimischen beobachtete. Bei Gegenwind und Regen gegen den Wind am Strand entlangzulaufen ist mühselig – und mit Schirm wäre es katastrophal gewesen. Meine Füße haben Urlaub bekommen: durch das Waten im Wasser, das Laufen auf feuchtem Sand und das Gehen über Steine und Muschelschalen. Ich habe viele Quallen am Strand gesehen, Muscheln gesammelt, den rauen Geräuschen des Meeres gelauscht, mich in den Sand gesetzt und meine Gedanken einfach wie Wolken vorbeiziehen lassen. Ich habe ein paar meiner Gedichte gelesen und mich einfach gefreut.

Strand Gedicht


Moin.
Barfuß am Strand, Regenschirm im Sand.
Leichter Regen, eine sanfte Brise.
Plätschernde Wellen, die ans Ufer schellen.
Der Himmel in unzähligen Blautönen.
Diesen Anblick kann man nicht mehr aufschönen.

Auf dem Seebadfestival habe ich einen leckeren Kaffee genossen, mir mangels Bargeld eine viel zu fancy Portion Pommes gegönnt, später noch die Schmalzkuchenspezialität probiert und mir ein riesiges Quarkbällchen für die Rückfahrt gekauft. Es war eine schöne Mischung an Musik dabei – und irgendwie ein Erlebnis, Wellerman am Meer zu hören, während ich mit meinem Kaffee am Hafen entlangspazierte.

Der Tag verstrich langsam und gemütlich, doch meine Erschöpfung ließ mich zeitig in die Herberge zurückkehren. Alles in allem schien mir der Tag vollkommen. Auf die Fährfahrt habe ich aus Kostengründen verzichtet – ich bin aber nicht böse drum. Nach Travemünde und zurück bin ich mit dem Bus gefahren. Es regnete insbesondere auf der Rückfahrt sehr, was dem Ende des Tages eine besonders schöne Atmosphäre verlieh.

Der letzte Abend

Meine „neue“ Mitbewohnerin, mit der ich mir das Zimmer im dritten Stock teilte, war nicht das Erholsamste der Reise – doch auch das hielt ich aus. Eine ältere Dame, die sich beim Smalltalk gern über alles Mögliche beklagte: den Preis des Mittagessens, dass es keine Fernseher auf den Zimmern gebe und dass sie sich nicht gut zurechtfinde. Ich half ihr geduldig, eine nicht existierende Straße auf der Karte zu finden, erklärte ihr, wie man einen Screenshot macht – und war schließlich froh über meine Kopfhörer. Denn sie wusste offenbar nicht, wie man den Ton ihres Candy-Crush-Spiels leiser stellt, und tuschelte gern mit sich selbst.

Da sie auch den gesamten Tisch im Zimmer in Beschlag genommen hatte, zog ich mich für ein Weilchen in den Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss zurück. Dort schrieb ich ein paar Nachrichten, sortierte Fotos und ergänzte meine Notizen. Währenddessen überlegte ich, ob ich dem Ruf folgen und meinen letzten Abend wie geplant im Mac Thomas ausklingen lassen sollte – eine Einladung, die ich am Vorabend dankend angenommen hatte. Doch meine Müdigkeit war zu groß. Die schlaflose Nacht zuvor steckte mir in den Knochen, und der lange Tag am Meer hatte meine letzten Reserven aufgebraucht.

Also kehrte ich gegen neun Uhr auf mein Zimmer zurück, nahm eine lange, heiße Dusche, malte ein wenig, hörte mein Buddenbrook-Hörbuch weiter und ließ mich schließlich langsam ins Bett sinken. Gegen Viertel vor zehn wollte ich noch einmal zur Toilette und eine letzte Zigarette rauchen. Beim Hinabsteigen meines Hochbetts versuchte ich, so leise wie möglich zu sein – Internatserfahrung macht geübt darin. Doch die alte Treppe knarrte, und meine Mitbewohnerin, die offenbar schon schlief (wenn auch mit voll aufgedrehtem Klingelton), fuhr plötzlich hoch, starrte mich erschrocken an, als sei ich ein Geist, und fauchte wie eine aufgescheuchte Katze. Ich entschuldigte mich reflexhaft mehrfach, verließ das Zimmer möglichst schnell – und fragte mich, ob ich wirklich so erschreckend war.

Zurück im Zimmer verzichtete ich auf weitere Bewegungen. Ich kuschelte mich unter die Decke, doodlete noch ein paar letzte Lübeck-Skizzen und hörte weiter dem Werdegang der Familie Buddenbrook zu, bis ich einschlief. Das Bedauern, nicht ins Mac Thomas gegangen zu sein, kam kurz hoch – doch meine Erschöpfung war stärker.

Außerdem sah ich keine Möglichkeit, das Zimmer zu verlassen, ohne die Dame erneut versehentlich aus dem Schlaf zu reißen – und damit eine weitere nächtliche Eskalation oder spontane Geisteraustreibungen zu provozieren. Ich schlief tief und erholsam – neun Stunden am Stück. Am nächsten Morgen machte ich mich früh auf zum Frühstück, um mich ausgiebig für die Rückreise zu stärken und diesen besonderen Ort gut genährt zu verabschieden.

Morgen der Abreise

Am nächsten Morgen wachte ich zeitig auf und begann, so leise wie möglich mein Bett abzuziehen und meine Sachen zu packen, da ich mich nach einem ausgiebigen Frühstück bald auf den Heimweg machen wollte. Die Reise würde mit über sechs Stunden lang genug werden, und ich plante vorsorglich ein, dass irgendetwas auf dieser Bahnfahrt nicht klappen oder ich in irgendeiner Stadt einen kleinen Aufenthalt einlegen könnte. Ich entschied mich, diesmal über Hamburg und Hannover zurückzufahren, um so viel wie möglich von meiner Reiseroute auszukosten.

Beim Frühstück saß ich ein letztes Mal mit meiner früheren Zimmergenossin zusammen. Wir aßen, plauschten und lachten gemeinsam. Sie hatte – genau wie ich – den Tag zuvor am Strand in Travemünde verbracht, doch wir waren uns dort kein einziges Mal über den Weg gelaufen. Es war schön und beruhigend zu sehen, dass eine weitere Solo-Reisende sich für ähnliche Dinge begeisterte, sie ebenso genoss und ebenso unabhängig unterwegs war. Voreinander mussten wir uns in keiner Weise rechtfertigen – weder fürs Alleinreisen noch für das Bedürfnis nach Ruhe.

Sie fragte mich, was ich an meiner Heimat im Ruhrgebiet am meisten vermisste. Ich musste einen Moment überlegen. Es war eine schöne Frage, die ich sehr zu schätzen wusste – und schließlich mit zwei Dingen beantwortete: den Fördertürmen und dem Dialekt bzw. der Art der Kommunikation. Wir lachten darüber und verabredeten uns zum Abschluss, dass wir bei Gelegenheit in der Heimat gemeinsam einen Kaffee trinken würden.
An dieser Stelle – solltest du das hier irgendwie einmal lesen, meine Liebe: Es war mir ein großes Vergnügen, dich kennenzulernen. Ich danke dir für deine Gesellschaft und habe unser zukünftiges Kaffeetrinken nicht vergessen!

Nach dem ausgedehnten Frühstück checkte ich aus und begab mich zum Kohlmarkt. Auf meinem letzten Weg durch Lübeck ging ich zielsicher, mit gutem Gefühl, den schönsten Weg entlang, widmete meinen Lieblingsorten einen letzten Blick – und nahm schließlich den Bus zum Bahnhof.

Ich hätte gewiss auch laufen können, doch meine Beine waren schwer, und die Busfahrt kurzweilig. Von Lübeck aus fuhr ich nach Hamburg. Ich entschied mich bewusst für die etwas längere Strecke über Hamburg und Hannover statt über Lüneburg und Uelzen, um weitere Städte zumindest im Vorüberfahren zu sehen.

In Hamburg angekommen, war ich sehr froh, eine halbe Stunde Umstiegszeit zu haben – die ich auch brauchte, um den Bahnhof zu durchqueren. Es war der größte Bahnhof, den ich je gesehen hatte. Wahrscheinlich sogar größer als der in Berlin, und definitiv größer als Frankfurt am Main. Ich sah dort mehr Geschäfte, als manch kleiner Ort überhaupt besitzt. Wahrscheinlich ist dieser Bahnhof sogar größer als so manche Stadt.

Im Zug angekommen suchte ich mir einen freien Einzelplatz und war glücklich, für die lange Fahrt einen ruhigen, schönen Sitz gefunden zu haben.

Begleitet von den Buddenbrooks, Tonis kurzer Ehe in München und meinen Gedanken über Hamburg, während ich am Hauptbahnhof verweilte, lauschte ich weiter dem Verfall der Familie.

Unerwartet in Uelzen

Unerwartet sitze ich wieder in Uelzen, da sich ein Ast dazu entschlossen hat, mit der Oberleitung zu kuscheln – und alle Reisenden hier aussteigen mussten. Anscheinend kriegen sie den Strom nicht abgeschaltet, „weil sie zu doof sind“, so erklärte es zumindest der freundliche Schaffner.

Es sollen angeblich bald Busse kommen – das allerdings sagten sie auch schon vor einer Stunde. Der Bahnhof in Uelzen ist wirklich schön, und ich bin noch verhältnismäßig entspannt. Ein Hundertwasser-Bahnhof mit einem kleinen Brunnen und interessanter Architektur. Man könnte schlimmer stranden, dachte ich, während ich in aller Ruhe den Bahnhof besichtigte.

Nach zahlreichen kleinen Wanderungen durch die Bahnhofshalle und einem großen Kaffee kamen tatsächlich zwei Busse für den Schienenersatzverkehr. Die Menschen drückten sich regelrecht hinein, und ich ergatterte noch einen Sitzplatz auf den Stufen zum Ausgang. Die Schuhe direkt vor mir waren leider in Hundehinterlassenschaften getaucht, doch die Fahrt verging – Gott sei Dank – zügig.

In Suderburg angekommen, fuhr auch rasch der nächste Zug ein – und zwar einer, der sogar bis nach Göttingen fährt. Ich machte es mir in der ersten Klasse gemütlich, um mich von den Strapazen zu erholen und nicht weiter zertreten zu werden.

Auf nach Hause

Der Schaffner plauderte ein wenig mit mir und ließ mich dann in Ruhe. Kurz vor Hannover kam er erneut vorbei und fragte mich, ob ich ein Erste-Klasse-Ticket hätte. Ich verneinte dies ein wenig ausweichend. Er erklärte mir, dass er mein Bedürfnis nach Ruhe gut nachvollziehen könne – ich dürfe seiner Meinung nach gern dort sitzen bleiben. Doch in Hannover gäbe es einen Schichtwechsel, also solle ich mir vorsichtshalber einen neuen Platz suchen. Er würde mir Bescheid geben. Dankbar nahm ich diese Freundlichkeit an und ruhte mich bis kurz vor Hannover im gemütlichen Oberwagen der ersten Klasse aus.

Mein neuer Platz war in Ordnung, doch leider schlief mein Sitznachbar tief und fest – und ich beobachtete ihn sicher eine halbe Stunde, wann er wohl aufwachen würde, damit ich ihn bitten konnte, mich zur Toilette durchzulassen.

Während der restlichen Reise unternahm ich nicht mehr viel. Ich hörte weiter den Buddenbrooks zu, freute mich auf Zuhause und entspannte mich. In Göttingen erreichte ich sogar passend den Anschlusszug – und war froh, bald darauf den verregneten Kiesweg am Heimatbahnhof zu betreten.

Zuhause angekommen warf ich mich als Erstes aufs Sofa – und knuddelte Buddy, der sich sofort auf mich legte und zu schnurren begann, als wollte er sagen: Willkommen daheim. Einen Moment verharrte ich so mit meinem Kater – und ließ meine Reise Revue passieren.

Reflexion

Diese Reise nach Lübeck war für mich vor allem eine Reise zur Ruhe, zur Erholung und zur Inspiration. Ich habe viele neue Eindrücke gesammelt, interessante Menschen getroffen und dennoch Momente tiefer Stille gefunden. Ganz nebenbei habe ich mir eine fette Erkältung eingefangen – ein kleines, anhängliches Souvenir, das seinen Preis wert war.

Was diese Reise besonders machte, war das bewusste Alleinsein unterwegs. Es ging nicht darum, möglichst viel zu sehen oder durch touristische Highlights zu hetzen, sondern das Leben genau so zu genießen, wie ich es in dem Moment fühlte. Ich bin ein kontaktfreudiger Mensch, der überall neue Freunde findet, aber genauso schätze ich die Ruhe und das Alleinsein. Für mich ist Alleinreisen keine Bürde, sondern ein Privileg – eine Möglichkeit, mich selbst neu zu entdecken und ganz frei unterwegs zu sein.

Ein roter Faden spannte sich durch die Tage – die Ambivalenz zwischen Ruhe und Trubel, zwischen Alt und Neu, zwischen Inspiration und Information. Die Buddenbrooks als literarische Begleiter waren dabei wie ein leiser Hintergrundsound, der mich immer wieder an das Historische und Zeitlose erinnerte.

Dabei habe ich bei weitem nicht alles gesehen – und das wollte ich auch nicht. Mein Kosmos hier war vor allem der Marktplatz, der sich als mein Lieblingsort herauskristallisierte. Immer wieder zogen sich meine Wege um diesen Platz, dessen umstehende Gebäude ich mit großem Vergnügen betrachtete. Die zwei Welten – die große, historische Altstadt und das frische Meer mit Strand – verbanden sich zu einer einzigen, vielschichtigen Reise über die ich nun so lang und lebhaft berichtet habe.

Ich habe das Größte aus dieser Reise herausgeholt, und das mit einem überschaubaren Budget. Diese Mischung aus Einfachheit, Freiheit und kleinen Abenteuern macht für mich das Reisen aus – und ich freue mich schon auf die nächste Entdeckung.

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Ein Tag in Hildesheim