Was zählt eigentlich als Wissenschaft?

Die Frage, was zählt eigentlich als Wissenschaft, kommt öfter auf, wenn wir uns in Co-Working-Streams über verschiedene Studienfächer und Disziplinen austauschen. Wie kann es sein, dass sowohl eine Person, die im Labor mit Formeln arbeitet, als auch jemand, der in einer Kita Kinder beobachtet, „Wissenschaft macht“?

Die Methoden wirken sehr verschieden - doch die Frage, was Wissenschaft eigentlich ausmacht, lässt sich nicht nur an Mikroskopen und Messreihen festmachen, sondern an Idealen, die für jede Wissenschaft gelten.

Da ich in einem Seminar zur Einführung einen Text gelesen habe, der diese Frage aufgreift, möchte ich mit meinem Wissen daraus einen kleinen Einordnungsversuch wagen - und so vielleicht die scheinbar unüberwindbaren Gräben zwischen sehr unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen ein Stück weit überbrücken.

Die fünf Ideale der Wissenschaft (nach Holm Tetens)

Der Philosoph Holm Tetens nennt fünf wissenschaftliche Ideale als Maßstäbe, an denen sich jede Disziplin messen lassen muss - unabhängig davon, ob sie mit Zahlen, Interviews oder Theoremen arbeitet.

1. Ideal der Wahrheit

„Wissenschaft ist ohne Unterscheidung von wahr und falsch undenkbar.“

Jede Wissenschaft will wahrheitsfähige Aussagen über die Welt machen. Das heißt: WissenschaftlerInnen suchen Erkenntnis, die über bloße Meinung oder Glauben hinausgeht. Sie wollen Irrtümer ausschließen, jedoch mit dem Wissen, dass absolute Wahrheit kaum erreichbar ist. Trotzdem bleibt die Orientierung an Wahrheit das zentrale Grundprinzip.

Beispiel:
In der Physik wird gefragt: Welche Kräfte wirken, wenn ein Objekt in Bewegung gerät?
In der Soziologie lautet die Frage: Wie wirken Machtverhältnisse, wenn Menschen miteinander handeln?
Beide suchen nach den unsichtbaren Kräften, die Bewegung erzeugen - und wollen möglichst wahre Aussagen darüber treffen, was die Welt (oder die Gesellschaft) im Innersten zusammenhält.

 

2. Ideal der Begründung

„In der Wissenschaft sollte im Prinzip für jede Behauptung argumentiert werden - und spätestens, wenn sie zweifelhaft geworden ist, muss für sie auch argumentiert werden.“

Wissenschaftliche Aussagen müssen begründet und überprüfbar sein. Das schützt sie vor Willkür und Dogma. Jede Disziplin hat dabei eigene Standards: empirische Daten, logische Argumentation, methodische Transparenz.

Beispiel:
In der Physik wird eine Hypothese über die Wirkung einer Kraft durch Messreihen, Formeln und Experimente begründet.
In der Sozialwissenschaft wird eine Annahme über soziale Macht durch Interviews, Beobachtungen und theoretische Reflexion gestützt.
Beide müssen zeigen, warum ihre Aussagen gelten - und sie so begründen, dass andere sie nachvollziehen können.

 

3. Ideal der Erklärung und des Verstehens

„Von einer Tatsache nachzuweisen, über welche Regeln, Muster oder Strukturen sie mit anderen Tatsachen in der Welt zusammenhängt, heißt, diese Tatsache zu erklären und zu verstehen.“

Wissenschaft interessiert sich für Zusammenhänge zwischen Tatsachen, nicht für isolierte Fakten. Einen Zusammenhang erkannt zu haben, das ist der berühmte Aha-Effekt des Forschens. Erklärungen sind Argumente, die aufzeigen, wie etwas mit anderem zusammenhängt. Begründungen dagegen sagen, warum wir glauben, dass etwas wahr ist.

Beispiel:
In der Physik wird erklärt, warum sich ein Körper bewegt: durch das Zusammenspiel von Masse, Kraft und Energie - gesetzmäßig, messbar, vorhersehbar.
In der Sozialwissenschaft wird verstanden, warum sich Menschen oder Gruppen bewegen: durch soziale Rollen, Machtverhältnisse und Sinnzuschreibungen - interpretativ, kontextabhängig, nachvollziehbar.
Beide suchen nach Mustern und Strukturen, die Bewegung ermöglichen - die eine im Raum, die andere in der Gesellschaft.

 

4. Ideal der Intersubjektivität

„Wissenschaft ist der systematische Versuch, zu entdecken, was alles Wichtiges in der Welt der Fall ist – und warum es der Fall ist.“

Wissenschaft gelingt nicht allein, sondern in Kooperation. Sie funktioniert wie ein riesiges Puzzle, bei dem viele ForscherInnen an unterschiedlichen Teilen arbeiten - im Vertrauen darauf, dass sich die Stücke irgendwann zusammenfügen. Damit das möglich ist, müssen Ergebnisse nachvollziehbar sein. Deshalb werden Daten dokumentiert, Experimente beschrieben, Interviews transkribiert - so entstehen materielle Spuren, denen andere folgen können. Erkenntnisse müssen also intersubjektiv nachvollziehbar sein - sie dürfen nicht nur im Kopf einer einzelnen Person existieren. Das bedeutet: Ergebnisse werden veröffentlicht, Methoden offengelegt, Kritik zugelassen, denn Wissenschaft ist sozusagen öffentliches Denken.


Beispiel:
In der Physik wird ein Experiment so beschrieben, dass andere ForscherInnen es unter denselben Bedingungen wiederholen können.
In der Sozialwissenschaft wird bei einer qualitativen Studie die Datengrundlage (wer, wo, wann, in welchem Kontext), die Auswertungsschritte (wie werden Beobachtungen genutzt) und die Interpretationen (was wird wie auf welcher Grundlage gedeutet) transparent offengelegt, damit KollegInnen sie nachvollziehen und kritisch prüfen können.

5. Ideal der Selbstreflexion

„Wissenschaft kann und muss sich selbst thematisieren.“

Wissenschaft reflektiert sich ständig selbst: Was gilt als Wissen? Welche Methoden wählen wir? Wo liegen unsere Grenzen - und wer bestimmt sie? Gerade hier zeigen Sozial- und Geisteswissenschaften besondere Stärke: Sie hinterfragen ihre eigenen Voraussetzungen, Machtstrukturen und den Einfluss, den sie auf das Verständnis von „Wissen“ selbst ausüben. Doch auch Naturwissenschaften korrigieren und überprüfen fortlaufend ihre Begriffe und Theorien, sobald neue Erkenntnisse entstehen.

Beispiel:

In der Astronomie wurde Pluto jahrzehntelang als neunter Planet des Sonnensystems geführt, bis neue Kriterien für den Begriff „Planet“ entwickelt wurden. Die Wissenschaft hat ihre eigene Definition überprüft, angepasst und transparent erklärt, warum Pluto nun als Zwergplanet gilt.

In der Erziehungswissenschaft werden theoretische Grundlagen und Methoden ebenfalls ständig hinterfragt und weiterentwickelt. So wurde etwa die klassische Pädagogik, die lange auf individuelle Erziehungssituationen fokussiert war, zunehmend durch sozial- und strukturtheoretische Ansätze ergänzt, um Bildung im gesellschaftlichen Kontext besser zu verstehen.

Fazit: Verschiedene Wege, gleiche Ideale

„Alle Erkenntnisbemühungen dürfen Wissenschaft genannt werden, sofern sie sich auf ihre Weise erfolgreich bemühen, die Idee der Wissenschaft - und damit die fünf Ideale - zu erfüllen.“

Die von Tetens beschriebenen Ideale sind bewusst abstrakt formuliert, damit sich alle Wissenschaften darin wiederfinden können. Wenn man Tetens folgt, ist also entscheidend, ob eine Disziplin diese Ideale einlöst. Erziehungswissenschaft und Physik sind daher nicht „mehr“ oder „weniger“ Wissenschaft; Sie erfüllen dieselben Ideale auf unterschiedlichen Wegen: Beide begründen, prüfen, veröffentlichen und reflektieren.

Und genau darin liegt die Stärke einer breiten Wissenschaftslandschaft: Sie bringt uns nicht nur technische, naturwissenschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Erkenntnisse; Darüber, wie wir miteinander leben – unter welchen Bedingungen, mit welchen Fragen und mit welchen Grenzen.




Nun, wenn ihr es bis hier geschafft habt, ein paar Fragen an euch:
Habt ihr nun eine Vorstellung davon, was Wissenschaft ist?
Welche Wissenschaft betreibt ihr - und mit welchen Methoden?

Ich würde mich über Anregungen, Fragen und Kritik in den Kommentaren sehr freuen!

Literatur:
Tetens, Holm (2013): Wissenschaftstheorie. Eine Einführung. München: C.H. Beck.

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