soziologische Gedanken zu Fallout #1: Die Vault als totale Institution

Die Serie zum Videospiel Fallout hat mich regelrecht in ihren Bann gezogen: Sie hat mich überrascht, begeistert, mitgenommen, abgeholt und gefesselt. Selbst ich, ein eher pazifistisch angehauchtes Schaf, hatte plötzlich Lust, das Ödland erneut zu erkunden. So begann ich, Fallout 3 im Stream zu spielen.

Bereits vor einigen Jahren brachte ich in einem Anfall jugendlich-rebellischen Wahns Fallout: New Vegas in meinen Besitz. Ein paar Spielstunden habe ich damals hineingesteckt, doch irgendwann wurde es klein Lish jedoch zu schwierig – vor allem, als ich mich in den Fängen irgendwelcher Super-Aliens wiederfand.

Als ich nun im Stream Fallout 3 spielte, lag der Unterhaltungsfaktor für die Zuschauenden weniger in meinem (zugegeben painLishen) Gameplay, sondern vielmehr in meinen soziologisch und philosophisch angehauchten Gedanken zur Spielwelt. Auf Wunsch einer oder mehrerer Zuschauenden entsteht daher dieser Blogartikel.

Da ich nicht weiß, wann ich wieder digital aus radioaktiven Toiletten trinken und Fallout im Stream spielen werde, halte ich hier ich vorerst hier meine Gedanken fest: meine Eindrücke zur Spielwelt, zur Lore und zu den Charakteren. Vorab eine kleine Warnung: Es könnte zu Spoilern kommen. Ich selbst habe die Spiele nur angespielt, die Serie jedoch mehrfach durchgeschaut.

Allen, die sich für Dystopien interessieren, lege ich die Serie ans Herz – am besten gleich zweimal anschauen! Für mich war es die beste Serie des Jahres, und ich kann es kaum erwarten, weitere Staffeln zu bingen.

Die Serie erschien im April 2024 und holte mich direkt ab. Das musikalische Setting trifft genau meinen Geschmack und macht den Kontrast zwischen Dystopie und Nostalgie einfach wundervoll. Die erste Staffel umfasst 8 Folgen, die etwa eine Stunde (mal mehr, mal weniger) Laufzeit haben.

In diesem Artikel werde ich mich zunächst mit einer soziologische Theorie über das Leben im Vault beschäftigen. Es ist geplant, weitere Gedanken dazu, wie zur Bruderschaft, dem Ödland und weiteren Themen in anderen Artikeln festzuhalten.

 

Erving Goffman & totale Institutionen

Der Soziologe Erving Goffman würde eine Vault wohl als totale Institution definieren.
Doch wer war Goffman und was ist eine totale Institution?

Wer ist Erving Goffman?

Erving Goffman (1922–1982) war ein kanadisch-amerikanischer Soziologe, der sich intensiv mit sozialem Verhalten und gesellschaftlichen Strukturen beschäftigte.

Zu seinen Hauptwerken zählen "Wir alle spielen Theater" und "Asyle" – beide sehr lesenswert. In Asyle untersuchte Goffman psychiatrische Kliniken der 1970er-Jahre, das Leben der Insassen und das Verhalten des Personals. Dabei analysierte er das Innenleben, die Unterwelt, die Regeln und Abläufe dieser Institutionen aus soziologischer Perspektive.

In diesem Blogartikel – werde ich, angelehnt an das Thema meiner Bachelorarbeit – Goffmans Theorie aus Asyle aufgreifen und sie anhand Vaults von Fallout veranschaulichen.

Was ist eine totale Institution?

Nach Goffman ist eine totale Institution ein Ort, der jeden Lebensbereich der Menschen, die dort leben ( sog. „Insassen“), durchdringt. Die BewohnerInnen sind komplett von der Außenwelt isoliert und sollen vollständig in die Institution integriert werden. Ihre soziale Rolle wird von der Institution definiert und kontrolliert – im Vault sind alle Menschen „VaultbewohnerInnen“.

Goffman beschreibt totale Institutionen als „ein System absichtsvoll koordinierter Aktivitäten, welches geschaffen wurde, um allgemeine, klar umrissene Ziele zu erreichen“ (Goffman, 1977, S. 173).

Diese Ziele sind den Insassen, bzw. den VaultbewohnerInnen nicht zwingend bekannt. Im Fallout-Universum wurden die Vaults zwar offiziell geschaffen, um Menschen vor atomarer Strahlung zu schützen, jedoch wurden die verschiedenen Vaults von verschiedenen Unternehmen für Experimente genutzt. Diese Experimente durchzuführen ist somit Ziel der Institution Vault.

Die BewohnerInnen von Vault 4, die wir in der Serie kennenlernen, wissen, dass der Vault bzw. ihre BewohnerInnen in der Vergangenheit von WissenschaftlerInnen für genetische Experimente genutzt wurde, die “normalen” Insassen von Vault 33 wissen nicht, dass sie teil eines Experiments sind.

Die Gemeinschaft der Insassen in den Vaults ist vorgegeben, die Auswahl der Mitmenschen ist nicht möglich. In Vault 33 zeigte sich zu Beginn der Serie, dass Lucys Fortpflanzungspartner von der Vault-Leitung ausgesucht wird (Auch wenn hier zu erwähnen ist, dass es niemand passendes innerhalb des Vaults gäbe, mit dem sie nicht verwandt ist, jedoch wird jemand aus einem anderen Vault von den Aufsehern jemand ausgewählt, der als Lucys Partner in Vault 33 “eingetauscht” werden soll). Später wird ein Teil der BewohnerInnen von Vault 33 von den Aufsehern für den Umzug in Vault 32 ausgewählt, ein Mitspracherecht haben die BewohnerInnen dabei nicht, sodass es zu einem herzzerreißenden Abschied zwischen zwei besten Freunden kommt, die sich wohl nie wieder sehen werden.

Auch die Arbeit innerhalb des Vaults wird den BewohnerInnen zugewiesen. Dies geschieht im Alter von 16 Jahren durch den verpflichtenden G.O.A.T-Tests, den alle VaultbewohnerInnen -wie auch wir als Spieler in Fallout 3 - in der Schullaufbahn ablegen müssen (vgl. Fallout-Wiki). Anhand des Tests werden Einstellungen und Fähigkeiten erfragt und so eine passende Arbeit ausgewählt.

Auch die Kleidung der VaultbewohnerInnen ist vorgegeben und besteht aus blauen Anzügen, die mit der Nummer des Vaults versehen sind. Dadurch entsteht eine engere symbolische Bindungen an die jeweilige Vault.

 

Das wichtigste Ziel, dass der Vault erfüllen soll, ist - nicht wie vor dem Fall der Atombomben propagiert - der Schutz vor der atomaren Strahlung und das Bestehen der Menschheit, sondern die reibungslose Durchführung des jeweiligen Experiments im Vault: Im Fall von Vault 33 stellt dieses Experiment die Entwicklung von perfektem Führungspersonal dar.

Für das gelingen der Experimente ist die Kooperation der VaultbewohnerInnen bzw. das Vertrauen in die Strukturen und den Aufseher des Vaults entscheidend, denn das Experiment scheitert, wenn die BewohnerInnen rebellieren und zerstörerische Tendenzen zeigen, wie man in Vault 32 gesehen hat: “Tod dem Management”.

Kooperation wird in totalen Institutionen durch ein System aus Belohnungen und Strafen erreicht. Goffman beschreibt dies so: „‚Anreize‘ bestehen aus Belohnungen oder Nebenverdiensten […], ‚negative Sanktionen‘ manchmal aus einer spürbaren Minderung der üblichen Belohnungen“ (Goffman, 1977, S. 176). Eine negative Sanktion zeigt sich etwa an der Degradierung von Lucys Cousin Chet, der als “Schlüsselwächter” verbotener Weise Lucy die Vault-Außentür geöffnet hat und daraufhin seinen Posten abgeben muss.

Chet ist zutiefst betrübt darüber, da er in der Arbeit als Schlüsselwächter einen bedeutenden Teil seiner Identität sieht. Darin zeigt sich eine weitere Eigenschaft totaler Institutionen, da sie die Identität ihrer Mitglieder formen. Die Anpassung an – oder der Widerstand gegen – institutionelle Vorgaben beeinflussen sowohl die soziale Rolle als auch das individuelle Selbst.

Dieser Artikel soll einen Einstieg in die Theorie der totalen Institutionen von Erwing Goffman geben. In nächsten Artikel möchte ich die Anpassungsstrategien der Insassen nach Goffman mit denen der VaultbewohnerInnen vergleichen.


Ich hoffe, ich konnte euch das Konzept von totalen Institutionen mithilfe der Vaults etwas näher bringen.
Findet ihr noch mehr Gemeinsamkeiten und Eigenschaften von Vaults und Totalen Institutionen?
Habt ihr andere Lore-Facts aus Fallout, die ich einbeziehen könnte oder soziologisch untersuchen soll?
Schreibt es in die Kommentare!

Da dies mein erster soziologischer Artikel hier ist, würde ich mich außerordentLish über Feedback, Kommentare oder Fragen freuen!

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